Was ist ruinöse Empathie?

Ein Plädoyer für gelebte Selbstempathie in der Führung

Empathie in aller Munde: Neulich erhielt ich einen wirklich interessanten Impuls zum Thema ruinöse Empathie im Unternehmenskontext durch meine Kollegin Lara. Die Mitarbeiterin ist hoch qualifiziert, kreativ und gleichzeitig ist sie gerade sehr frustriert. Warum? Weil sie sich weiterentwickeln möchte, schon länger weit unter ihren Fähigkeiten arbeitet und sich bereits mehrmals intern auf andere Stellen beworben hat – erfolglos.

Einige Wochen nach einem eigentlich sehr „netten“ Gespräch mit ihrer Vorgesetzten, bei der sie um Unterstützung für die interne Versetzung bat und sich auch verstanden fühlte, hat Lara nun doch ihre Kündigung eingereicht. Der Grund: die fehlende Unterstützung sowohl von ihrer Vorgesetzten, als auch von der eingeweihten Personalabteilung und die mangelhaften Entwicklungsmöglichkeiten im Unternehmen. Das Unternehmen verliert eine ausgezeichnete Mitarbeiterin. Wie konnte es dazu kommen? Haben wir es hier mit einem Fall von ruinöser Empathie zu tun? Und wie hätte ein empathisches, aufrichtiges und angemessenes Führungsverhalten ausgesehen? Diese Frage soll im Laufe des Artikels beantwortet werden.

Empathie ist in aller Munde. Sie soll für ein wertschätzendes Miteinander und gegen die kränkelnde Unternehmenskultur mit all ihren Begleiterscheinungen wirken. Unternehmen, die zukunftsfähig bleiben wollen, geben ihren Führungspersonen also einfach eine Packung „Empathie Forte“ und das Problem ist gelöst. Zumindest im Fall von Laras Vorgesetzten wäre das doch sicherlich hilfreich gewesen, oder? Doch wie jedes Mittel kann Empathie auch überdosiert oder sogar wirkungslos werden. Empathie-Experten wie Dr. Karim Fathi und Herbert Haberl sprechen deshalb auch vom Empathie-Paradoxon. Das bedeutet: Der Druck und Stress der Leistungs- und Konsumgesellschaft auf Führungspersonen wächst und gleichzeitig schreien alle nach mehr Empathie, die uns jedoch unter Druck und Stress nicht so leicht von der Hand geht. Krisen, wie die Pandemie, die Folgen von Krieg und die beschleunigte digitale Transformation wirken deshalb bei vielen Führungspersonen sogar als wahre Empathie-Hemmer. 

Auch wenn Empathie zurecht als bewährter Wirkstoff in der Führung gehypt wird, behaupte ich, dass Empathie allein nicht reichen kann. Um Vielfalt, Akzeptanz und damit angemessenes Führungsverhalten zu ermöglichen und eine gesunde Firmenkultur zu gestalten, ist vielmehr die Zusammensetzung mit anderen Wirkstoffen notwendig. 

Was ich damit meine, welches Empathie-Verständnis diesem Artikel zugrunde liegt und was das mit Schwimmen zu tun hat, werde ich im Folgenden erläutern. Mit diesem Artikel möchte ich ein realistisches Bild von dem zeichnen, was Empathie liefern kann bzw. was nicht und was Führungspersonen tun können, um sich vom Druck der Empathie freizuschwimmen.

Was Empathie kann – und wann sie ruinös wird

Sowohl im Management-Kontext, als auch im sozialen Bereich und im Marketing hat sich der Begriff „Empathie“ in den letzten drei Dekaden zu einem Trendwort entwickelt, das zunächst einmal positive Assoziationen aufkommen lässt.

Tatsächlich haben wir jedoch ein verzerrtes Bild von Empathie und, unterschätzen damit, dass sie auch ruinös und ungesund werden kann. 

Hier ein paar Aspekte oder auch „Wirkstoffe“, die mir im Empathie-Diskurs oft fehlen, sind: Erstens, die Fähigkeit allein reicht nicht, es muss auch die Bereitschaft da sein, sie einzusetzen, also sich wirklich in die andere Person einzufühlen, was mich zum zweiten Punkt führt: Empathie kann, wenn sie mit Totschweigen einhergeht, ruinös werden. Ruinöse Empathie, nach Kim Scott, liegt vor, wenn z.B. Kolleg:innen verbunden sind, aber die kritischen Themen totgeschwiegen werden, also die Aufrichtigkeit fehlt. Uns liegt die Kritik auf der Zunge, aber wir schweigen aus Angst, die Person zu verletzen. Im schlimmsten Fall geht es so weit, dass der Mensch, weil er unter seinen Möglichkeiten arbeitet, entlassen wird. Und dann völlig aus den Wolken fällt, weil er im Unklaren gelassen wurde. 

Ein dritter wichtiger Wirkstoff, ist Selbstempathie. Denn ich kann als Führungsperson nicht aufrichtig und empathisch mit anderen sein, wenn ich meine eigenen Bedürfnisse nicht kenne, verstehe und danach handle.

Darüber hinaus kann „in andere Menschen hineinzuversetzen“, auch als Voraussetzung für gezielte Erniedrigungen und Grausamkeiten erweisen, führt zum Beispiel der Kognitionswissenschaftler Fritz Breithaupt an. Paul Bloom, Professor für Psychologie an der Yale University plädiert in seinem Buch „Against Empathy: The Case for Rational Compassion“ (‎Hrsg. Vintage, 2018) sogar für eine Abschaffung der Empathie zugunsten von Fähigkeiten wie Selbstkontrolle, Vernunft und ein weiter gefasstes Mitgefühl.

Mit anderen empathisch zu sein, sorgt also erstmal noch nicht für angemessenes Verhalten von Führungspersonen. Außerdem kriegen wir es emotional nicht hin, uns in Menschenmassen einzufühlen und haben nur Kapazität für ein paar wenige, meist uns nahestehende Personen. Gehen wir über diese Grenze hinaus, kann sogar empathischer Stress entstehen. 

Die gute Nachricht ist, es gibt vielleicht, etwas Nachhaltigeres als pure Empathie im Führungsalltag. Doch dazu später mehr. Nachdem wir uns den Begriff näher angeschaut haben.

Was Empathie ist

Laut aktuellem Duden-Eintrag bedeutet Empathie: die Bereitschaft und Fähigkeit, sich in die Einstellungen anderer Menschen einzufühlen. Der Wikipedia-Eintrag dazu geht sogar noch weiter: Empathie ist die Fähigkeit und Bereitschaft, Empfindungen, Emotionen, Gedanken, Motive und Persönlichkeitsmerkmale einer anderen Person zu erkennen, zu verstehen und angemessen zu handeln. Schon hier wird es meiner Meinung nach schwammig. Wie wichtig die Unterscheidung von Fähigkeit und Bereitschaft sich einzufühlen bzw. die Bereitschaft „angemessen zu handeln“ ist, wird sich in diesem Artikel noch herauskristallisieren.

Ich möchte vorher jedoch noch mal einer dritten Definition Raum geben, nämlich das Empathie-Verständnis der gewaltfreien Kommunikation (GFK), das durch den Begründer der GFK Paul Rosenberg geprägt wurde. Laut GFK nimmt Empathie an, was ist, und gibt wertfreien Raum für alles, was gehört werden möchte. Diesem Verständnis kommt auch der folgende Abschnitt nahe.

Empathie ist voller Körpereinsatz

Empathie findet auch auf körperlicher Ebene statt. Mimik und Gestik spielen eine wichtige Rolle. Empathie bedeutet, mit den Augen des anderen zu sehen, mit den Ohren des anderen zu hören und mit dem Herzen des anderen zu fühlen.

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Hauptverantwortlich dafür, dass wir beobachtete Gefühle nachempfinden können, sind die sogenannten Spiegelneuronen. Sie sind auch dafür verantwortlich, dass wir ein beobachtetes Verhalten intuitiv nachahmen und dass wir – bei Sympathie – unseren Körper in Richtung unseres Gegenübers ausrichten, unser Gegenüber damit nachahmen und wir unbewusst auf einer Wellenlänge schwimmen bzw. mit dem anderen „mitschwingen“:

Im Lexikon der Psychologie von Spektrum findet man auch den Begriff “empathische Resonanz”, der das Mitschwingen von Gefühlen oder Gedanken bei anderen Menschen bezeichnet. Schlägt sich jemand z.B. mit dem Hammer auf den Finger, leiden wir sozusagen affektiv mit. Die empathische Resonanz und wie sehr wir mitschwingen, ist immer auch von unseren sozialen Erfahrungen und Erlebnissen im sozialen Kontext geprägt.

Empathie ist also etwas sehr Körperliches und schlussendlich die Zuwendung mit allen Sinnen. Unserem Gegenüber zeigen wir unsere Zuwendung, wenn wir einer Person nicht nur unsere mentale Aufmerksamkeit schenken, sondern ihr auch Nase und Nabel, also unsere Körpermitte, zuwenden. Um auch in diesem Artikel den Körper mit einzubeziehen, biete ich folgende Übung an: 

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Übung für echte Empathie im Alltag

Schreibe den Anfangsbuchstaben deines Namens entweder direkt auf deine Stirn oder nimm einen Klebezettel zur Hilfe, um ihn dann, gut sichtbar für andere auf deiner Stirn zu platzieren. In welche Richtung bzw. für wen hast du den Buchstaben geschrieben? Für dich oder für andere? Die Antwort ist erstmal ganz wertfrei. Sie zeigt jedoch, wie sehr wir bei uns selbst oder auch bei anderen sind.

UND öfter mal Nase und Nabel dem Gegenüber zuzuwenden, gefolgt von Schweigen, während die andere Person das Herz ausschüttet, übt natürlich am besten.

Was Empathie nicht ist

Empathie (allein) ist kein Wundermittel für ein gelingendes Miteinander, für ein zukunftsfähiges Unternehmen bzw. gegen abwandernde Mitarbeiter:innen. 

Empathie ist lediglich die Fähigkeit und Bereitschaft, sich stillschweigend in andere einzufühlen und nicht mehr. Sie allein reicht jedoch nicht aus, um als Führungsperson im komplexen Umfeld unter Druck und Stress den Führungsauftrag zu erfüllen oder darüber hinaus Mehrwert zu stiften.

Eine empathische Führungsperson verzichtet auf:

  • Belehrungen und Ratschläge, denn „Ratschläge sind auch nur Schläge“
  • psychologisch die Gefühle zu analysieren
  • die Situation herunterzuspielen
  • das Vortragen der eigenen Sorgen
  • Vorverurteilungen
  • Mitleidsbekundungen
  • Psychospielchen usw.
  • das Anbringen eigener Geschichten
  • Desinteresse, z.B. ausgedrückt durch abgewandte Körpersprache

Die Liste der unangemessenen Reaktionen ist lang.

Stattdessen hilft zu reflektieren „Was hätte sich die Person in der Situation gewünscht? Was hätte ich mir selbst in dieser Situation gewünscht?“ Denn das bedeutet „sich einzufühlen“ wirklich.

Um unangemessenem Handeln entgegenzuwirken, ist radikale Selbstempathie von immenser Bedeutung. Denn so wichtig es ist, die Gefühle und Bedürfnisse anderer Menschen zu erkennen und zu verstehen, lohnt es sich, das Gleiche auch für uns selbst zu tun!

Erinnern wir uns noch mal an das oben geschriebene, dass drei Schritte zu gehen sind. Um 1. zu Erkennen, 2. zu Verstehen und 3. (angemessen) zu handeln, bedarf es zunächst einmal der Zuwendung zu sich selbst und da kommt die Selbstempathie ins Spiel. 

Selbstempathie als Grundlage für Empathie

“Bin ich gerade überhaupt «leer» genug, um für jemand anderen da sein zu können oder trage ich selbst gerade zu viel mit mir herum?” Wenn wir diese Frage mit “nein” beantworten, ist es wichtig, erst einmal für uns selbst zu sorgen. Gerade in Krisenzeiten verlieren wir uns schnell selbst aus den Augen und vernachlässigen unsere Bedürfnisse, das bedeutet, dass wir auch nicht besonders gut für andere Menschen da sein und uns einfühlen können.

Übung für mehr Selbstempathie

Eine gute Übung, um den Selbstempathie-Muskel zu trainieren, ist angelehnt an die Selbstmitgefühl-Übung des Magazins “Neue Narrative”.

Erinnere dich an eine Situation, in der es einer geschätzten Person nicht gut ging – zum Beispiel, weil die Person etwas falsch gemacht hat. Was hast du getan oder gesagt und wie hast du es gesagt? Denke jetzt an eine Situation, in der du selbst mit etwas zu kämpfen hattest. Wie hast du mit dir gesprochen? Welche Wörter hast du benutzt? Nimm mal einfach nur wahr und atme. Und akzeptiere alle Gefühle, die auftauchen. Nun nimm dir einige Minuten Zeit, um dir die Wahrnehmungen und die dabei aufgekommenen Gefühle und Gedanken zu notieren. Das verstärkt den Effekt. 

Nur wer fähig und bereit ist, mit sich selbst empathisch zu sein, kann auch die drei Schritte Erkennen, Verstehen und Handeln, mit anderen gehen. Wenn einer ertrinkt, und du kannst aufgrund von einer Verletzung nicht schwimmen, springst aber dennoch ins Wasser, um die Person zu retten, dann gehst du mit unter, oder?

Zunächst einmal ist es eine gute Idee, sich von emotionalem Stress “freizuschwimmen”. Klingt komisch? Ist es aber nur bedingt. Ich bin seit vielen Jahren leidenschaftliche Triathletin und habe festgestellt, dass man beim Schwimmtraining einiges über Selbstempathie lernen kann, weshalb ich es hier einbringen möchte. Schwimmen stärkt den ganzen Körper und wirkt sich positiv auf die Psyche aus. Wie bei anderen Sportarten schütten wir auch beim Schwimmen Glückshormone aus. Stressabbau und Entspannung sind die wohltuenden Folgen. Bekanntlich macht Sport auch den Kopf frei – das gilt ganz besonders für die Bewegung im Wasser.

Für viele Triathlet:innen ist das Schwimmen die Disziplin, bei der sie am wenigsten Erfahrung haben. Verständlicherweise, denn die wenigsten hatten wohl das Glück, in ihrer Kindheit einen Schwimmkurs zu besuchen und müssen sich dann im Erwachsenenalter mühsam mit dem Thema auseinandersetzen. So ähnlich ist es auch mit der Selbstempathie.

Selbstempathie fragt nicht wie die Selbstkritik, was falsch oder verbesserungswürdig an dir ist. Etwas, das viele Träger:innen der Leistungsgesellschaft im Selbstoptimierungswahn tief verankert haben. Selbstempathie fragt erstmal nur ganz simpel, wie es mir geht und wie ich annehmen kann, was ist. Genau das braucht eben etwas Training. Ob Schwimmtraining oder Empathietraining, das ist dir selbst überlassen.

Die Grenzen von Selbstempathie sind wie jene der Empathie sehr individuell, aber dringend notwendig, um gesund zu bleiben. Die Fähigkeit, sich bewusst abzugrenzen und sich aus einer emotionalen Zuwendung zu anderen Personen wieder herauszuziehen, ist übrigens eine deutlich unterschätzte und nennt sich Ekpathie.

Weniger Empathie ist manchmal mehr: Wie Ekpathie helfen kann 

Die Fähigkeit, sich gefühlstechnisch auch an geeigneter Stelle wieder herauszuziehen, nennt man Ekpathie. Sie ist nicht wirklich das Gegenteil von Empathie, denn niemand, der nicht empathisch ist, ist direkt ekpathisch. Sie beschreibt eher einen nützlichen Gegenspieler, den Antagonisten von Empathie, ohne den der empathische Muskel nicht zurück in seine Kraft findet. Ekpathie kann Führungspersonen in emotional stressigen Situationen helfen, sich bewusst abzugrenzen. Auch das kann man trainieren.

Übung für mehr Ekpathie

Ich habe bereits beschrieben, dass Empathie auf körperlicher Ebene großen Einfluss hat. Auch Ekpathie kannst du üben, indem du den Körper einbeziehst. In Gesprächssituationen, in denen du dich klar abgrenzen möchtest, ist es hilfreich, mit einem Bein bei dir selbst und mit einem Bein beim Gegenüber zu sein, das schafft auch innerlich Distanz, wenn du dich zu stark einzufühlen drohst.

Alternativ können auch Gegenstände, wie etwa ein Schmuckstück, dabei helfen, sich die eigenen Grenzen in Gesprächen immer wieder bewusst zu machen. Und sie dienen uns als Erinnerungshilfe, um uns körperlich und auch kommunikativ aus einer emotional überhand nehmenden Situation herauszumanövrieren.

Oft hilft es auch schon, unser Gegenüber um eine kleine Pause zu bitten. Probier es gerne mal aus!

Nun habe ich schon einiges dazu geschrieben, was Empathie ist, was es nicht ist und was dabei hilft empathisch mit dir selbst zu sein. Darüber hinaus habe ich bereits angedeutet, dass Empathie auch ungesund sein kann und das Konzept der Ekpathie angeführt, um uns vor emotionalem Stress zu schützen.

Zu viel des Guten: Wenn Empathie ruinös wird

Es gibt jedoch noch eine weitere Ebene, auf der Empathie mit Verhalten kombiniert wird, das “unangemessen” passiv ist und somit ruinös wird. Das passiert, wenn das Einfühlen nicht in angemessene Handlungen übersetzt, sondern sogar in Totschweigen mündet, bzw. im schlimmsten Fall sogar in unterlassene Hilfeleistung abrutscht. Nehmen wir noch mal das Fallbeispiel meiner Kollegin Lara. Fest steht, dass Lara gegangen ist, weil sie sich von ihrer Vorgesetzten zwar verstanden, aber in keinster Weise unterstützt gefühlt hat und auch, dass ihre Vorgesetzte ihren Führungsauftrag – im Sinne des Unternehmens zu handeln – nicht erfüllt hat. Eine empathische Führungsperson wendet sich zu, erkennt Bedürfnisse, bzw. hört stillschweigend zu und sorgt darüber hinaus selbst gut für sich. Nur radikale Selbstempathie kann das Empathie-Paradoxon auflösen.

Dann lässt sie eine aufrichtige Handlung folgen. Sei es auch “nur” eine andere Führungspersonen ins Boot zu holen, weil der eigene Akku gerade eher leer ist.

Wir wissen nicht genau, was in Laras Fall-Beispiel dazu geführt hat, dass sich ihre Vorgesetzte nicht empathisch bzw. aufrichtig (genug) verhalten konnte. In diesem Fall gibt es mehrere Szenarien, die erklären könnten, warum Empathie “ruinös” werden kann, die ich hier gerne einmal durchspiele. Dabei spielen sowohl der Grad der Verbundenheit als auch jener der Aufrichtigkeit eine Rolle.

  1. Wenn die Person zu sehr verbunden mit ihrem Gegenüber ist und zu sehr Angst hat, ihr Gegenüber zu verletzen, dass sie in die Vermeidung oder sogar ins Mitleid rutscht. 
  2. Wenn die Person zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist, bzw. nicht “leer” genug ist, um sich wirklich mit allen Sinnen auf die Bedürfnisse des Gegenübers einzulassen. 
  3. Wenn die Person wichtige Dinge totschweigt, statt sie zu adressieren und damit Entwicklungspotenziale verschenkt. 
  4. Wenn die Person zu wenig verbunden mit der Person ist, sich gleichgültig verhält oder Lügen erfunden werden oder um den heißen Brei herumgeredet wird. 
  5. Ein anderes extrem ist, wenn die Person wenig verbunden und brutal ehrlich bzw. sogar verletzend dabei wird.

Der Spielraum: Radikale Aufrichtigkeit

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All diese Szenarien sind Extreme, vielleicht waren in dem Fall-Beispiel auch mehrere Dinge gleichzeitig am Wirken. Es gibt einen Spielraum zwischen brutaler Ehrlichkeit und manipulativem Geheuchel, zwischen unerbittlichem Befehl und übertriebener Rücksichtnahme auf Befindlichkeiten, zwischen Selbstmitleid und Ego-Trip. Dieser erfordert die Kombination verschiedener Aktionen bzw. Wirkstoffe: Deutliche Ansagen in klaren und freundlichen Worten – spezifisch und aufrichtig, respektvoll und empathisch – mit Blick auf die Empfindungen des Gegenübers und trotzdem die eigenen Grenzen wahrend. 

Ein Konzept, das diese Kombination lebensnah mitdenkt, ist “Die Radikale Aufmerksamkeit” von Kim Scott. Den Grundgedanken stellt sie in einer Grafik mit zwei Achsen dar.

Und wenn wir selbst nicht in der Lage sind, empathisch und aufrichtig zu sein? Dann gibt immer noch die Möglichkeit, Kolleg:innen oder Externe einzubeziehen, so wie bei der folgenden Übung.

Übung für das Team: Die kollegiale Fallberatung

Um verschiedene Szenarien für angemessenes Verhalten durchzuspielen und damit auch Lösungen zu entwickeln, hat sich die kollegiale Fallberatung bewährt. Die kollegiale Fallberatung bietet sich an, um das Potenzial und Wissen einer Gruppe lösungsorientiert zu nutzen. Unterschiedliche Erfahrungen, Rollenwechsel und neue Perspektiven führen dazu, dass Probleme aus einem anderen Blickwinkel betrachtet und anders gelöst werden können.

Die kollegiale Fallberatung lässt sich auch virtuell durchführen.

Übrigens: Es gibt unzählige Situationen, bei denen es sich lohnt, im Vorhinein darüber nachzudenken, wie man etwas anspricht. Klarheit in der Aussage und Rücksichtnahme auf die Gefühle der anderen Person wollen genau abgewogen sein. Zur Inspiration lege ich dir das neue Buch von Isabel García ans Herz: In “Wie sage ich eigentlich?” gibt sie 30 Kommunikationstipps, mit denen es gelingt, ehrlich mit sich selbst und wertschätzend mit dem Gegenüber umzugehen – privat und beruflich.

Geh schwimmen, verbinde dich und nenne die Dinge beim Namen!

Empathisch sich selbst aufmerksam zuhören und die eigenen Bedürfnisse klären ist die Basis für ein empathisches Miteinander und eine gesunde Unternehmenskultur. Eine Kultur, in der Raum für Gespräche und co-kreative Lösungsfindung für das Unternehmen entstehen können. 

Erst, wenn wir als Führungspersonen selbst genug Einfühlung bekommen haben, dann sind wir möglicherweise bereit, uns der Lösungsfindung zu widmen. Erst ist die Basis dafür geschaffen, auch empathisch und aufrichtig mit den Kolleg:innen mitzuschwingen. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass wir weniger empathisch mit jemandem sein können, den wir nicht kennen und eher mit Menschen, denen wir nah sind. Uns liegt ihr Wohl, ihre Zufriedenheit und ihr Wachstum am Herzen. Und das ist der Unterschied zur ruinösen Empathie, die im Unternehmenskontext durch Totschweigen Wachstum verhindern kann. 

Wie eingangs erwähnt gibt es etwas, das nachhaltiger als eine “Pille” Empathie ist: 

Nämlich das Zusammenspiel von Selbstempathie, Empathie (Verbundenheit) und Aufrichtigkeit. Wenn wir zunächst einmal gut für uns selbst sorgen, wirklich mit den Augen des anderen sehen, den Ohren des anderen hören und mit dem Herzen des anderen fühlen, d.h. mit ihr verbunden sind und direkt ansprechen, was uns stört, dann gelingen nachhaltig gute Beziehungen und begünstigt Wachstum. Denn angemessenes Verhalten von Führungspersonen durch radikale Aufmerksamkeit ermöglicht gesundes Wachstum – die Basis für die Zukunftsfähigkeit jedes Unternehmens. In diesem Sinne, viel Freude beim Freischwimmen!